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Lieber Vati, liebe Mutti
Zuerst übersende ich euch einen ganz herzlichen Kuß. Ich bete, so oft ich an euch denke, daß Gott euch – jeden Tag neu – aufblicken lasse zu Ihm und zu neuen Aufgaben! Daß euer Herz offen sei für neue Pläne in der Zukunft! Daß ihr euch bei jedem Sonnenaufgang freuen möget darauf, was der Tag euch bringen mag! Und selbst wenn ihr losziehen müßt von zu Hause, um Menschen zu begegnen und dabei Gutes zu tun oder zu empfangen. Ich bitte Gott, daß eure Hoffnungen noch nicht alle erfüllt sein mögen, daß ihr noch zu erfüllende Erwartungen habt! Denn solange unser Erdenlauf währt, sind doch noch Schritte des Kampfes zu tun aber auch Siege zu erringen!
Wir sind uns dessen bewußt, daß es euch etwas kostet, uns ziehen zu lassen. Waren wir doch so einander ans Herz gewachsen! In dankbarer Liebe zu Gott und euch denken wir daran, wie köstlich euer Verhältnis zu unseren Kindern war und wie ihr euch gegenseitig unzählige Male Freude bereitet habt. Daß zwischen euch und den Kindern Trennung eintreten mußte, tut mir leid. Schade, daß es nicht anders ging. Daß wir Erwachsene getrennt voneinander leben müssen, ist doch schon leichter zu verkraften, da wir es ja mit dem Verstand verarbeiten können und uns brieflich erreichen. Darum sind wir euch auch sehr dankbar, daß ihr, lieber Vati, liebe Mutti, es uns nie schwer gemacht habt, daß ihr nie versucht habt, uns von der Reise abzuhalten. Ihr wußtet, daß es etwas kosten würde, und habt uns trotzdem dazu ermutigt. Danke schön! Das Wiedersehen wird darum um so schöner sein und die Kinder werden noch klein genug sein, um Oma und Opa genug zu genießen, soweit es euch eure Gesundheit dann noch erlaubt.
Ich danke dir, Vati, daß du uns so treu Briefe schreibst. Wir freuen uns über jede Nachricht über Verwandte, unsere Familie und über die mennonitische Gemeinschaft.
Über euer Ernten freuen wir uns sehr. Ich bin kein Bauer geworden. Gott führte es so. Doch bin ich im Herzen recht tief verbunden mit den Erlebnissen meiner ersten 20 Lebensjahre. Damals nahm man den Alltag eher schlecht denn recht hin. Man tat, was erfordert wurde und vergaß dabei beinahe immer, daß es auch eine Gabe Gottes ist, ein Geschenk von Ihm, ganz in der Nähe, in tiefer Verbundenheit mit der Erde zu stehen. Damals sah ich am Abend hauptsächlich die wieder verschmutzten Fingernägel, irgend eine neue Verletzung an Händen und Beinen, den erneuten Ärger mit der Hechselmaschine oder mit einem Stück Vieh, usw. In meiner Erinnerung haften heute aber ganz tief andere Bilder. Ich verspüre noch den Herbstwind im Gesicht beim Viehholen auf dem Pferd. Wie oft begleiteten meine Augen das Wandern der Wolken in ihren vielfältigen Formen. Dir, lieber Vati, war der Sumpf in unserem Land wohl eher eine Quelle von Ärger, meine Hände aber verspüren noch die Wohltuung des leicht zu formenden Lehms. Erinnerst du dich noch, wie oft, als ich schon Jüngling war und später verheiratet, wir unser Land nach dem Mittagessen entlang spazierten? Wir sprachen dann über vergangene Ereignisse und darüber, was mit dem Land in Zukunft geschehen könnte. In Gedanken werde ich wohl immer mit dir mit staunenden Augen vor dem wunderbaren Eukalyptus hinter unserem Stall stehen, voll Liebe zu Gott, der durch seine Werke in der Natur uns auch mit Ihm verbindet. Dort auf unserer „Chácara“, das erkenne ich nun immer klarer, öffneten sich Augen in mir zum Leben, zur Schönheit, zur Bedeutung von Schweiß und Kampf. Ich unterbreche hier, denn die Erinnerungswelle will ununterbrochen weiterrollen. Ich stelle aber nochmal fest, daß der Herr mich reich beschenkte und das ich euch, liebe Eltern, in der Landschaft meiner Kindheit und Jugend als gutes Beispiel vor Augen sehe. Der liebe Vater segnet euch schon jetzt dafür, laut eurem eigenen Bekenntnis. Er tue es auch weiterhin! Könnt ihr mir nun glauben, daß euer jetziges Ernten und austeilen mich wirklich erfreut?
Wegen deiner Schrift, lieber Vati, mach dir keine Sorgen! Das lesen wir schon!
Wenn du deine Beziehung mit Mutti beschreibst, wie ihr euch lieb habt, so sei dir sicher, das ihr uns, mir und Irmgard, durch Gottes Gnaden dieses Geschenk des Eheglücks vererbt habt. Uns geht es ebenso. Irmgard staunt immer wieder, wie es geht, daß sie an meiner Seite so glücklich ist. Ich kann es auch nicht erklären. Ich habe aber ein gutes Beispiel eurerseits gesehen, Muttis unermüdliche Belehrungen über das Eheglück angehört und vieles ist in Fleisch und Blut übergegangen. Nun bange ich und strebe dahin, daß es meine Kinder auch mal so gut im Eheleben haben.
Du schreibst, daß ihr oft an uns denkt am Tage und in der Nacht. Dann tröste ich mich damit, das dieses euer Denken und Sich-Erinnern Gedanken des Friedens sind. Wie wenige Eltern können so ruhigen Gewissens ihre Kinder in der Ferne haben und wissen, daß es außer der Entfernung keine Trennung gibt. Die uns verbindende Liebe läßt uns trotz allem näher stehen, als wenn wir Nachbarn wären und uns nicht vertragen würden.
Manches gibt es nur einmal auf der Erde. So ist es mit den Gebeten von Eltern. Darum nehmen wir eure Gebete in einer goldenen Schale auf, in der wir unvergessliche Perlen aufbewahren, Perlen, denen Gott Ewigkeitswert beimißt.
Und nun, der Herr segne euch
Und schenke euch Seinen Frieden!
Es küssen euch
Eure
Udo, Corina, Tobias und Irmgard.
P.S.: Daß ihr eure Goldene Hochzeit aufschieben wollt, läßt mich nicht froh werden. Ich verstehe eure Gründe. Sollte aber einer von euch bis Ende dieses Jahres, oder wahrscheinlicher bis April 89 nicht mehr am Leben sein, so werde ich mich schwer gewissen Schuldgefühlen erwehren können, ein Hindernis gewesen zu sein, daß ihr diese Feier gestaltet. Solltet ihr nicht lieber doch auch ohne uns – aber mit unserer Fürbitte und unseren Segen – die Goldene Hochzeit feiern?
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Jacob Siemens 1910-1998 (Russland-Brasilien)
Maria Warkentin Siemens 1914- (Russland-Brasilien)
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